Gespräch mit Jess Koch | Agile Trainer, Coach und Berater bei HR Pioneers – Experte für Agile People Collaboration, Transformation, Leadership und New Work
[Bremen – 05.09.2022]
Wege und Strategien in Zeiten von Krisen und Unsicherheit. Wir fragen – HR-Expert:innen aus unterschiedlichen Disziplinen und Kontexten antworten.
Der thematische Rahmen der Sommer-Interviews 2022:
„Klimakatastrophe, Corona-Pandemie, Inflation, Krieg in Europa, Energiekrise – what‘s next? Strategie und (unternehmerisches) Handeln in unsicheren Zeiten“.
In diesen schnelllebigen, von starker Unsicherheit geprägten Zeiten ist die Informationsflut oft schwierig einzuordnen. Die reflektierten Perspektiven und Einschätzungen der Expert:innen sollen einen Beitrag dazu leisten, Zusammenhänge besser zu verstehen. Wo sind direkte Auswirkungen und substantielle Herausforderungen? Aber auch welche Strategien braucht es und wo ergeben sich Chancen? Gemeinsam wollen wir herausfinden, was wirklich wichtig ist in diesen gegenwärtigen Krisen – speziell für Organisationen und die Menschen, die sie gestalten.
Unser heutiges Experten-Gespräch ist mit Jess Koch, Trainer, Coach und Berater für Agilität bei HR Pioneers. Seine Themen als Human Resources Experte und “Wizard of Why” sind Agile People Collaboration, Transformation, Leadership und New Work.
“Wenn wir weiter so tun wie bisher, so tun, als stünde uns der Wohlstand zu, dann sehe ich schwarz. Nehmen wir die Herausforderung aber an und sind hungrig und motiviert es uns selbst zu beweisen, […], dann ist da eine berechtigte Chance, dass die kommenden Generationen nicht wesentlich schlechter in diesem Land werden leben können als es uns vergönnt war.”
Was tun in Krisenzeiten bzw. von starker Unsicherheit geprägten Zeiten? Wir fragen HR Experten zu den Herausforderungen, Strategien und Chancen
(#09) … heute mit: Jess Koch | HR Pioneers
Anmerkung d. Red.:
Mit der im Folgenden verwendeten Terminologie „kleinere Unternehmen/Organisationen“ sind vorrangig Startups und KMUs, aber auch Non-Profit-Organisationen in einer Beschäftigtengrößenklasse von bis zu 50 Mitarbeitenden gemeint.
Gleichwohl treffen viele der Aspekte aus der Umfrage auch auf deutlich größere Organisationen zu. Wir haben im Rahmen dieser Gesprächsreihe eine „mentale Grenze“ bei etwa 250 Beschäftigten gezogen, damit alle das gleiche verstehen, wenn wir von „kleineren Unternehmen“ sprechen. Denn aus unserer Perspektive bei staffboard sind Organisationen mit 500-1.000 Beschäftigten keinesfalls mehr klein… 😉
Bestandsaufnahme: „Raus aus der Krise, rein in die Krise?“
staffboard: Jess, Du bezeichnest Dich selbst als “Wizard of Why” und bist ein bunter Hund in der deutschen HR Szene. Als agile Coach, Trainer und Berater begleitest Du Organisationen bei ihrer Transformation auf dem Weg in die Arbeitswelt von morgen, Stichwort New Work.
Lass uns doch die letzten rund 2,5 Jahre einmal Revue passieren: Diese waren geprägt durch eine Ansammlung diverser Krisen, die teils nacheinander, teils parallel stattfanden. Kaum hatte man eine neue, schwierige Situation antizipiert oder einigermaßen gelöst, so schien es, kam schon die nächste Herausforderung mit neuen Unsicherheiten für Entscheider.
Wie hast Du das wahrgenommen und bei Euch bzw. bei den von Dir beratenen Organisationen erlebt?
Jess Koch: Ja, damals im Februar/März 2020. Der Beginn vom Ende oder Willkommen in der Zukunft. Bei HR Pioneers waren wir bis dahin eine dezentral aufgestellte Beratung, die aus ihrem Selbstverständnis heraus zu fast 100% vor Ort beim Kunden war. Das war auch gewünscht. Auf beiden Seiten herrschte die unumstößliche Meinung, das Ganze ginge nur vor Ort. Ja und dann, ging sprichwörtlich nix mehr. Auf einen Schlag kam alles zum Erliegen. Die meisten unserer Beratungsaufträge wurden pausiert und entsprechend blieben wir Berater dann auch erst einmal daheim. Da wir nun nicht mehr vor Ort beim Kunden sein konnten und so auch ohne Arbeit, also Beratungsaufträge, waren, gab es nur zwei Möglichkeiten: Aussitzen oder Ärmel hochkrempeln und zusehen, dass man die Gelegenheit nutzt, herauszufinden, wie man sich der neuen Situation anpasst.
Du beschreibst sehr treffend eine Situation, an die viele sich noch selbst gut erinnern werden – und als teilweise surreal empfanden. Wie seid Ihr damit umgegangen? Was waren für Euch wirkungsvolle Herangehensweisen?
In wenigen Wochen haben wir es geschafft unser gesamtes Beratungs-Know-how in digitale Tools zu packen. Und waren so in der Lage, schon nach wenigen Monaten unseren Kunden entsprechende Lösungen anzubieten. Da sich auf Kundenseite auch die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass es weitergehen müsse, konnten wir auch schnell wieder mit unserer alten Tätigkeit Nutzen für unsere Kunden stiften. Eben aber mit dem Unterschied, dass wir nun nicht mehr bei ihnen vor Ort waren. Das war für beide Seiten neu und fühlte sich am Anfang auch seltsam an. Da fehlte schon was. Im Laufe der Zeit aber änderte sich das, und so waren wir und unsere Kunden angekommen im New Normal. Und jetzt wollen einige wieder zurück und mehr Vor-Ort-Beratung haben. Doch viele erkennen auch die Vorteile und schauen genauer, was digital und was analog geliefert werden soll.
Was diese ersten Monate rückblickend auszeichnet, war eine unglaubliche Neugierde wie auch Offenheit, Dinge auszuprobieren. Zusammen mit unseren Kunden haben wir in den ersten Monaten immens viel gelernt. Es war in einer gewissen Art und Weise so etwas wie Aufbruchstimmung zu spüren. Gemeinsam hat man mutig dieses Neuland beschritten, Erfahrungen gemacht, sich ausgetauscht und die Dinge weiterentwickelt. Das hat – bei all dem Schlimmen, was diese ersten Corona-Monate auszeichnete – richtig Spaß gemacht. Wir alle waren gezwungen uns zu ändern, mussten alle mutig sein und haben einander die Kraft und die Zuversicht gegeben, dass wir dies auch schaffen würden.
Zuversicht und Mut sind zweifellos wichtige Stichworte bei einer Reise ins Ungewisse… Was meinst Du: Ist das jetzt die vielfach zitierte “neue Normalität”, also eine Krise und Herausforderung nach der nächsten? Oder ist es irgendwann auch mal gut?
Ich denke, es wird weitergehen. Wir stehen vor dem dritten Corona-Herbst beziehungsweise -Winter und hinzukommt, dass der Angriffskrieg Russlands nun noch einen draufsetzt. Und dann ist ja noch der menschengemachte Klimawandel, der uns in seinen Auswirkungen ja erst in ein paar Jahren heftig treffen wird.
Corona war gerade in Sachen Digitalisierung das viel zitierte Brennglas, was schonungslos die deutschen Versäumnisse in diesem Bereich offenlegte. Es ist immer noch beschämend, wo wir als viertgrößte Industrienation in Sachen Digitalisierung stehen. Und vergessen wir hier nicht, dass wir das nicht einzig allein auf die Politik schieben können. Die Digitalisierung haben wir – wie auch die Energiewende – aus einer gewissen Trägheit heraus gemeinsam verschlafen. Hier zu mutig zu handeln wurde nicht als notwendig erachtet. Und nun eben zeigt sich, wie sehr unsere Verwaltung, die Schulen, viele Betriebe in Sachen Digitalisierung immer noch abgehängt sind und wie abhängig der Industriestandort Deutschland in Sachen Gas ist.
Durch den Krieg wird nun quasi die zweite Raketenstufe gezündet, und ob wir in eine Zukunft mit Zukunft fliegen, hängt davon ab, ob wir bereit sind unsere Haltung zu ändern und die Herausforderung nun ernsthaft anzunehmen. Denn wenn wir weiter so tun wie bisher, so tun, als stünde uns der Wohlstand zu, dann sehe ich schwarz. Nehmen wir die Herausforderung aber an und sind hungrig und motiviert es uns selbst zu beweisen, dass wir das schaffen können, dann kann das was werden. Dann ist da eine berechtigte Chance, dass die kommenden Generationen nicht wesentlich schlechter in diesem Land werden leben können als es uns vergönnt war. Ziemlich sicher wird uns auf den kommenden Kilometern nichts geschenkt. Das wird auch weh tun. Wahrscheinlich auch mal sehr. Das muss uns allen klar sein.
“Unternehmen müssen die Fähigkeit entwickeln, Veränderungen möglichst rechtzeitig zu antizipieren, selbst innovativ und veränderungsbereit zu sein, ständig als Organisation zu lernen und dieses Wissen und die Erfahrungen allen zur Verfügung zu stellen.“
Themenfeld: “Risiken, Herausforderungen und Auswirkungen der Krise”
Welche besonderen Herausforderungen siehst Du durch die aktuelle Lage gerade auf (kleinere) Unternehmen und Organisationen zukommen?
Es braucht die Fähigkeit sich kontinuierlich an seine komplexe und unsichere Umwelt anzupassen. Dazu müssen Unternehmen die Fähigkeit entwickeln, Veränderungen möglichst rechtzeitig zu antizipieren, selbst innovativ und veränderungsbereit zu sein, ständig als Organisation zu lernen und dieses Wissen und die Erfahrungen allen Personen zur Verfügung zu stellen. Bei dem ein oder anderen klingelt es an dieser Stelle, denn dies ist unterm Strich das, was man unter Agilität versteht. Aber was soll ich lang drum rumreden, was andere schon so schön auf dem Punkt gebracht haben…
Warum ist eine fehlende oder nicht ausreichend ausgeprägte Agilität aus Deiner Sicht “mission critical” für viele dieser (kleineren) Unternehmen und damit potentiell existenzbedrohend? Oder ist das vielleicht doch etwas übertrieben?
Egal ob groß oder klein, alle müssen lernen, wie sie Veränderungen frühzeitig und proaktiv erkennen und antizipieren. Nur wer das kann, wird der Konkurrenz zwei Schritte voraus sein können. Ansonsten wird es schlicht und ergreifend ganz, ganz schwierig, sich am Markt zu behaupten.
Und was ich aus meiner Erfahrung als Berater für agile Transformationen mit Sicherheit sagen kann: Das ist kein einfaches Vorhaben, die Herangehensweise zu ändern. Wer vor hat, mehr Agiliät zu wagen, der sollte sich auf ein spannendes, langjähriges Abenteuer vorbereiten. Ich kann aber auch sagen: Lernen die Dinge anders anzugehen macht – bei aller Anstrengung – wirklich Freude.
“HR ist historisch schwach im Umgang mit Zahlen und das muss sich ändern. Denn: Gerade in einer komplexen Welt, in der ich durch Hypothesen experimentell versuche, mir meine Handlungsräume zu erschließen, brauche ich Zahlen, um meine Erkenntnisse zu belegen.”
Themenfeld: „Menschen, Führung und Rolle von HR“
Wie bewertest Du auf Basis Deiner Expertise die Rolle von HR (Human Resources / Human Relations / Personalwesen), insbesondere in (kleineren) Unternehmen/Organisationen?
Ich sagte ja bereits, dass wir eine Antwort auf Komplexität brauchen, und Agilität ist die Antwort auf Komplexität. Und das Geschäft der HRler wurde – leider – lange als nicht komplex, sondern als linear steuerbar empfunden. Deshalb sind wir Personaler auch so gut darin Prozesse zu bauen. Prozesse, die viel zu oft die Bedürfnisse der unterschiedlichen Nutzergruppen nicht bedienen. Und deshalb haben wir auch nie wirklich einen guten Stand in Unternehmen. Denn das, was HRler für andere bauen, ist oft für die Katz! Vieles, was in dem Standard-HR-Werkzeugkoffer steckt, ist einfach nicht gut und eignet sich, wenn überhaupt, lediglich für planbare, vorhersehbare Ereignisse. Die Zusammenarbeit mit Menschen ist aber per se komplex und nicht vorhersehbar. Entsprechend kann Agilität jenen Personalern ein wirkungsmächtiges Werkzeug sein, die Lust haben, endlich wirklich passende Lösungen für die Mitarbeiter zu kreieren.
Was kann – oder sogar: muss – HR dabei tun, um hier bewusst gegenzusteuern und die Organisation „fit für die Zukunft“ zu machen?
Ehrlich gesagt heißt das: HR muss sich dringend ändern, um sein Leistungsportfolio an den Bedürfnissen seiner Nutzer auszurichten und so wirklich Nutzen für das Unternehmen zu schöpfen. Will ich als HR-Abteilung nicht nur für People sondern auch für Culture Verantwortung tragen und mutig vorweg gehen, dann muss HR entsprechend dafür sorgen, dass es die Unternehmenskultur seine Wertepyramide so ausrichtet, dass Agilität möglich wird. Denn Agilität ist immer eine Frage der Haltung und kein agiles Framwork ist ohne das entsprechende und viel gerühmte agile Mindset möglich.
Hast Du womöglich ganz konkrete Handlungsempfehlungen für Entscheider und HR Gestalter?
Will HR mehr sein und die Zukunft des Unternehmens aktiv gestalten, dann sollte HR schnellstmöglich mit drei Dingen beginnen:
- Aufhören, so verflixt gefällig zu sein. Gucken wir uns doch mal die durchschnittliche HR Abteilung hier im Lande an. Da herrscht schon eine ziemlich große Gleichförmigkeit. Es arbeiten kaum bis gar keine Menschen in HR, die anecken, eine klare Meinung haben uns sich nicht scheuen, diese auch zu vertreten.
- HR muss sich mehr dafür einsetzen, dass Menschen, die nicht konform sind, die sagen, was ist, nicht nur überleben, sondern gern im Unternehmen sind. Bisher wurde doch hauptsächlich die Person kulturell belohnt, die unauffällig in der Masse unterging beziehungsweise es verstand, im richtigen Moment, der richtigen Person nach dem Mund zu sprechen. Was wir aber brauchen, ist eine große Diversität, was Perspektiven anbelangt – und entsprechend muss ich gerade die Perspektiven fördern, die vom Mainstream abweichen.
- HR muss sich damit auseinanderzusetzen, was Agilität ist, was es braucht, Agilität zu wagen und möglichst schon erste konkrete Umsetzungsschritte benennen.
Welchen Herausforderungen sehen sich HRler gegenüber, wenn sie sich mit dem Thema Agilität befassen? Siehst Du besondere Entwicklungen oder gar „Trends“, die die Zukunft prägen werden?
HR muss aber nicht nur verstehen was Agilität bedeutet. HR muss – wie schon gesagt – auch selbst agiler werden. Es muss entsprechend mehr vom Kunden her denken und darf dabei nicht Kunde mit Nutzer verwechseln. Viele HRler denken nämlich noch immer, dass ihr Kunde der Mitarbeiter, die Geschäftsführung oder sonst jemand Internes ist. Das ist aber grundlegend falsch. Das sind auch keine internen Kunden. Das sind alles Nutzer meines Leistungsportfolios. Auch mein Kunde sitzt draußen. Das ist der, der die Zeche zahlt. Nur wenn HR hier die Perspektive ändert, ist Augenhöhe mit den anderen Fachbereichen möglich. Sonst nicht.
Ein anderer Punkt ist, dass HR Abstand von dem menschlichen Daumen, dem „ich-will- was-mit-Menschen-machen“ nimmt und zukünftig einen versierten Umgang mit Zahlen, Daten und Fakten ausübt. HR ist historisch schwach im Umgang mit Zahlen und das muss sich ändern. Denn: Gerade in einer komplexen Welt, in der ich durch Hypothesen experimentell versuche, mir meine Handlungsräume zu erschließen, brauche ich Zahlen, um meine Erkenntnisse zu belegen. Entsprechend rate ich allen HRlern einen Grundkurs in Statistik und gern eine Weiterbildung im Bereich People Analytics. Denn wenn ich wirklich etwas Gutes für die Mitarbeiter tun will, dann brauche ich Zahlen, Daten, Fakten um meine Behauptungen zu begründen.
Kommen wir nun zum Thema Leadership: Welche Rolle spielt es in Eurer Organisation? Findest Du, dass sich das bei Euch zuletzt in irgendeiner Weise verändert hat?
Wir leben Führung so: Jeder trägt für sich und sein Ergebnis selbst die Verantwortung. Entsprechend gilt: Hoch und lang lebe die Eigenverantwortung. Und doch gibt es bei uns Führungsrollen. Hier trägt man aber die Verantwortung für Themen, Bereiche, Aufgaben und: … man wird für die allermeisten dieser Rollen gewählt. Dies geschieht durch ein von allen Mitarbeitern gewähltes Wahlgremium.
„Versuche machen klug“, könnte dabei unser Wahlspruch sein, denn wir probieren ständig aus und ändern unsere Herangehensweise. So haben wir im Januar 2021 ein Organisationsdesign gemeinsam verabschiedet, nur um es dann im Mai 2022 durch ein neues zu ersetzen. Das „alte“ war uns nicht gut genug. Nun haben wir ein neues und haben uns gemeinsam darauf geeinigt, es für zwei Jahre auszuprobieren. Änderungen können und werden wir sicher aber vornehmen. Denn auch das jetzige Design ist nur der letzte Stand des Irrtums. Und da wir wohl auch weiterhin wachsen, wir ständig neue Kunden mit neuen Fragestellungen von uns überzeugen werden, müssen wir mit der Veränderung gehen.
Ein Learning möchte ich aber gerne noch teilen: Wir haben gemerkt, dass, bei aller Selbstverantwortung beziehungsweise auch Selbstorganisation, der Bezug zu Menschen immens wichtig ist. Dass es, neben den persönlichen Kontakten, die ein jeder pflegt und hegt, einer Person bedarf, die sich explizit um einen kümmert beziehungsweise sich emphatisch um einen sorgt. Natürlich sind alle stets angehalten sich um ein internes Netzwerk zu bemühen, welches ihnen Halt und Fürsorge gibt, dies muss jedoch auch stets im Interesse des Unternehmens liegen. Aber ganz unabhängig davon sollte es jedem Unternehmen wichtig sein, seinen Mitarbeitern die größtmögliche Sicherheit zu geben.
“Digitale Lösungen im HR können einen echten Nutzen für die Mitarbeiter generieren. […] Ich bin der Überzeugung, dass gute digitale Lösungen maßgeblich das Wohlbefinden der Mitarbeiter am Arbeitsplatz verbessern können.“
Themenfeld: “Mindset, Kompetenzen und (Einfluss der) Digitalisierung”
Welches Mindset bzw. Einstellung und welche Kompetenzen benötigen (kleinere) Unternehmen/Organisationen, um gestärkt aus Krisensituationen hervorzugehen und erfolgreich unter Unsicherheit zu agieren?
Wir müssen Unwissenheit zulassen. Wir brauchen Menschen, die in der Lage sind mit Veränderungen situativ und konstruktiv umzugehen. Wir brauchen Menschen, die zugeben können, dass sie nicht die Antwort kennen, aber den Mut haben sich auf die Suche nach einer möglichen Antwort machen. Wir müssen akzeptieren, dass in einem Umfeld, in dem die Komplexität hoch ist, es sich schlussendlich immer nur um den letzten Stand des Irrtums handeln kann. Wir brauchen Menschen, die einander offen und mit gegenseitig Wertschätzung begegnen. Wir brauchen eine Offenheit gegenüber Fehlern, müssen mehr Transparenz wagen. Wir müssen Entscheidungen weg von Einzelnen hin zu mehreren delegieren, müssen Teams dazu bringen Verantwortung zu übernehmen. Und eben nicht hoffen, dass es der oder die Einzelne schon richten wird.
Können diese (kleinere) Unternehmen/Organisationen überhaupt handlungsfähig bleiben?
Ja, die einzige Möglichkeit sich gut für die Zukunft zu rüsten ist, sein Betriebssystem zu wechseln oder zumindest upzudaten. Für einfache oder komplizierte Fragestellungen, da mag „Command & Control“, beziehungsweise mag die Pyramide und der gute alte Wasserfall, das kaskadenartige Top-Dow-Vorgehen, eine gute, ja die richtige Wahl sein. Aber die Dinge sind nun einmal nicht einfach oder kompliziert. Die Räume, in denen die meisten Unternehmen heute operieren, sich bewähren müssen, sind komplex. Und da hat Command & Control oder der Wasserfall noch nie guten Nutzen gestiftet. Was wir brauchen, ist mehr Mut zu Agilität. Auch wenn dies heißt, dass das Unternehmen dadurch ein anderes wird. Denn das ist gut und auch notwendig.
Gibt es aus Deiner Perspektive als agile Trainer und Coach konkrete Handlungsanweisungen oder „Sofortmaßnahmen“, die Du den Lesern mit auf den Weg geben möchtest?
Zunächst einmal gehört dazu, dass man aufhört, Agilität als die neue Kuh, welche nun durch das Dorf getrieben wird, zu betiteln. Die wenigsten wissen, was Agilität am Ende bedeutet. Viele halten es für ein Buzzword, das lediglich dafür da ist, einigen Beratern gute Umsätze zu verschaffen. Andere meinen auch, dass Agilität bedeutet, dass man auf der Prozessebene Dinge vertauscht. Wer das annimmt, der irrt. Agilität ist in seiner Gesamtheit die beste Antwort auf komplexe Zusammenhänge. Daher: Wir alle müssen mehr Agilität wagen.
Entsprechend ist ein erster Schritt sich genau dieser Aufgabe zu stellen und sich im Sinne einer agilen Herangehensweise experimentell an neue Lösungen heranzutasten. Dabei sollte man mit kleinen Dingen beginnen und schrittweise lernen, wie man sein Unternehmen am besten neu ausrichten kann.
Welche Bedeutung misst Du der Digitalisierung bei, um Antworten in Krisensituationen zu finden? Können digitale HR-Lösungen hier einen echten Mehrwert bringen?
Mit digitalen Lösungen im HR Bereich bin ich in der Lage einen echten Nutzen für die Mitarbeiter zu generieren. Ich muss den Mitarbeitern digitale Angebote machen, die ihnen das Leben erleichtern und damit helfen sich auf das zu fokussieren was während ihrer Arbeitszeit wichtig ist: Die Arbeit. Das Ausfüllen eines Urlaubsantrages darf nicht aufwendiger sein, als das Buchen eines Fluges nach Lanzarote. Lernen muss Zeit und ortsunabhängig möglich sein. Warum nicht was auf dem Weg zur Arbeit über Strategieentwicklung per App lernen, auch wenn das gar nicht Teil meines Jobs ist. Feedback einmal jährlich und danach verschwindet der Fragebogen in der Personalakte? Wie soll man sich da entwickeln? Mitarbeiter brauchen kontinuierlich und bedarfsabhängig Feedback um zu lernen – auch das geht am besten digital.
Deshalb bin ich der Überzeugung, dass gute digitale Lösungen maßgeblich das Wohlbefinden der Mitarbeiter am Arbeitsplatz verbessern können.
“Und hier ist die Corona-Pandemie ein Glücksfall – zumindest was den Teil der notwendigen Veränderung betrifft. Wir alle haben uns in kurzer Zeit fundamental auf Neues eingelassen, haben gemeinsam mutig Neuland betreten und dabei eine Vielzahl an Verhaltensweisen und Glaubenssätzen über Board geworfen.”
Themenfeld: “Chancen und Ausblick”
Lass uns eine bekannte Plattitüde bemühen: Gemeinhin heißt es, dass jede Krise auch eine neue Chance mit sich bringt. Wie bewertest Du das in diesem Kontext? Ist das überhaupt möglich?
Bei all dem Schlamassel, in dem wir aktuell stecken, was hilft es zu jammern? Das Glas ist halb voll. Entsprechend wohnt auch in diesem Moment viel Schönes und Gutes. Wir müssen eben nur die Chancen erkennen.
Um mit Erich Mühsam zu antworten: „Man darf nicht auf seinem Standpunkt beharren, sondern muss mit offenen Augen und Geist der Zukunft freudig begegnen. Denn der, der auf seinem Standpunkt stehen bleibt, wächst darauf fest, und seinem Geiste brechen die Schwingen ab.“ Das wollen wir ja nicht. Somit: Auf, auf in Richtung Zukunft, sonst sind wir verloren (frei nach Pia Bausch). Nach 2,5 Jahren Corona und mit dem Blick, was da alles noch vor uns liegt, können wir doch aber festhalten, dass ein radikaler digitaler Wandel möglich ist.
Wenn diese Krise auch selbstredend ein absolut katastrophales Ausmaß hatte und noch hat, so sind es mit Bezug auf Chancen folgende drei Punkte, die uns allen Anlass zur Hoffnung geben sollten:
- Wenn die Verlusterwartung konkret ist und auch so formuliert wird, wir also klar die Gründe für die notwenige Veränderung adressieren, dann bewegen sich die Leute.
- Wichtig ist zudem, nicht allzu blumig daherzukommen, sondern ich empfehle all jenen, die Veränderungen anstoßen wollen, gegenüber den Betroffenen unbedingt auch die Kosten für die Beibehaltung des Status quo zu betonen. Sonst bleiben die Leute eher mit sitzen, anstatt aufzubrechen.
- Auch sollte eine Verknüpfung der zukunftsgerichteten Veränderungen mit der eigenen Historie erfolgen, um die Angst vor dem Verlust von Teilen der eigenen und organisationalen Identität zu nehmen.
Und hier ist die Corona-Pandemie dann ein echter Glücksfall – zumindest was den Teil der notwendigen Veränderung betrifft. Wir alle haben uns in kurzer Zeit fundamental auf Neues eingelassen, haben gemeinsam mutig Neuland betreten und dabei eine Vielzahl an Verhaltensweisen und Glaubenssätzen über Board geworfen. Hier können wir ansetzen und sagen: „Schaut was wir in kurzer Zeit aufgrund Corona geschafft haben. Alles andere schaffen wir nun auch.“ Darauf können und sollten wir entsprechend hoffnungsfroh setzten!
Jess, das war großartig – sehr philosophisch und doch zugleich ziemlich greifbar in vielen Punkten. In Deiner Rolle als “Wizard of Why” hast Du uns, aber sicherlich auch die Leser*innen, ziemlich zum Nachdenken angeregt. Gleichwohl: Hoffnungsvoll und mutig lassen wir Unwissenheit zu, akzeptieren sie sogar, und sind damit gerne bereit, mehr Agilität zu wagen…
Informationen zum Gesprächspartner
Jess Kochs Expertise und fachlich-inhaltlicher Hintergrund:
- Unternehmensstrategie
- HR Strategie
- Organisationsentwicklung
- Leadership & Führung
- Unternehmenskultur & Werte
- Gestaltung von Veränderungsprozessen / Wandel / Change Management
- Aufbau und Skalierung von HR Prozessen und Organisationsstrukturen
- New Work / Zukunft der Arbeitswelt
- Lean Management & Agilität
Über unseren heutigen HR Experten:
Mein Name ist Jess Koch. Mit meinen 40 Lenzen habe ich Erfahrungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen entwickelt. Als gelernter Speditionskaufmann und Diplom-Wirtschafts- und Arbeitsjurist fand ich zum Ende meines Studiums den Weg ins Personalwesen. Unter anderem durch mein Wirken bei der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP e.V.) reifte ich zu einem versierten Transformationsexperten, der als Leiter verschiedener Arbeitsgruppen maßgeblich die Neuausrichtung dieses altehrwürdigen und damals wirklich sehr rückständigen Fachverbandes an vorderster Spitze mit vorantrieb. Hier erkannte ich früh die Bedeutung von HR Tech und sorgte dafür, dass die HR Startup Community ein Zuhause bei der DGFP (Deutsche Gesellschaft für Personalführung e.V.) fand, in dem ich 2014 die HR Innovation Roadshow erfand. 2020, zu Beginn der Corona Pandemie, schloss ich mich den HR Pioneers an, um gemeinsam mit ihnen die Arbeitswelt von Morgen zu gestalten. Viva la Transformation!
Als HR Tech Botschafter sorge ich seit einigen Jahren dafür, dass HR sich stärker den neuen, digitalen Möglichkeiten öffnet und innoviert. Außerdem begleite ich immer wieder HR Startups in Sachen Business Development, HR und Marketing. Darüber hinaus bin ich Mitbegründer der Initiative Love HR, hate Racism! und Vorstand im HR Nachwuchsnetzwerk HR Rookies e.V..