Wege und Strategien aus der Krise – Experten-Interview mit Natalie Sennes | MovingMountains
[München – 20.04.2020] Wir fragen – HR-Experten mit diversen fachlichen Hintergründen antworten. Diese reflektierten Perspektiven und Einschätzungen sollen ein Stück weit dabei helfen, die aktuell für viele unübersichtliche Situation im Zuge der Corona-Krise und die damit verbundene Informationsflut etwas besser zu sortieren: Was sind direkte Auswirkungen, substantielle Herausforderungen, aber auch welche Strategien braucht es und wo ergeben sich Chancen. Es gilt, für uns alle besser zu verstehen, was nun wirklich wichtig ist – speziell für Startups und KMU, aber auch für andere Organisationen.
“Wenn die mentale und auch physische Gesundheit der MitarbeiterInnen leidet, wirkt sich dies auf die Reaktionsfähigkeit, die Anpassungsfähigkeit und die Leistungsfähigkeit des Unternehmens aus. Gerade kleine Unternehmen können daraus resultierende Produktivitätseinbußen jetzt nicht so ohne weiteres verkraften.“
Was tun in der Corona-Krise? Wir fragen HR Experten zu den Herausforderungen, Strategien und Chancen
(19) … heute mit: Natalie Sennes von MovingMountains
Anmerkung: Mit der im Folgenden verwendeten Bezeichnung “kleinere Unternehmen” sind primär Startups, KMU und auch Non-Profit-Organisationen in einer Beschäftigtengrößenklasse von bis zu 50 Mitarbeitern gemeint. Gleichwohl treffen die von den Experten genannten Aspekte vielfach auch auf größere Organisationen mit mehreren Hundert oder Tausend Beschäftigten zu.
Themenfeld: “Risiken, Herausforderungen und Auswirkungen der Krise”
staffboard: Natalie, Du arbeitest seit vielen Jahren als agiler Coach und Prozessbegleiterin an der Zukunft der Arbeitswelt. Welche Herausforderungen siehst Du durch die aktuelle Corona-Krise auf (kleinere) Unternehmen zukommen, speziell im Kontext Deiner Expertise?
Leider sehr viele. Hier vielleicht drei wesentliche Herausforderungen, die ich bereits jetzt erlebe:
- Psychische Gesundheit.
Einige MitarbeiterInnen im Home Office oder der Kurzarbeit sind inzwischen demotiviert oder fühlen sich überfordert von den neuen Arbeitsumständen. Sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Arbeit kann hier zum Problem werden. Zusätzlich geht durch Entlassungen natürlich auch Fachwissen verloren. - Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Laissez-faire.
Viele fühlen sich im Home Office entweder überkontrolliert oder zu sehr allein gelassen – manchmal auch beides gleichzeitig. Für Führungskräfte ist es eine Herausforderung, diese Balance zu meistern. Klarer Sinn und klare Ausrichtung sowie Orientierung sind jetzt entscheidend und die sinnvolle Unterstützung von MitarbeiterInnen – im Sinne des Servant Leaders – ist ein wichtiger Balanceakt. - Dynamische Anpassung.
Dynamisch zu bleiben oder zu werden ist wichtiger denn je. Hier liegt die besondere Herausforderungen einerseits darin, schnell Entscheidungen zu treffen und aber andererseits auch bereit zu sein, diese wieder loszulassen und eine Kurskorrektur vorzunehmen.
Und warum ist das aus Deiner Sicht “mission critical” für viele (kleinere) Unternehmen und damit potentiell gefährlich für deren Fortbestehen?
Im Moment ist vor allem “mission critical”, dass für viele Unternehmen Umsätze wegbrechen und dann kommt es natürlich extrem auf die Branche an, wie stark mit Umsatzrückgängen zu rechnen ist. Ich sehe hier eine Kombinationslage, aus Umgang mit der veränderten Finanzsituation und einem Produktivitätserhalt oder einer Produktivitätssteigerung, an den Stellen wo es nötig ist.
Bezogen auf die die eingangs erwähnten Herausforderungen, heißt dies auch: Wenn die mentale und auch physische Gesundheit der MitarbeiterInnen leidet, wirkt sich dies auf die Reaktionsfähigkeit, die Anpassungsfähigkeit und die Leistungsfähigkeit des Unternehmens aus. Gerade kleine Unternehmen können daraus resultierende Produktivitätseinbußen jetzt nicht so ohne weiteres verkraften. Und auch kulturell ist es gefährlich, weil sich möglicherweise nachteilige Verhaltensweisen und Strukturen durch die Krise verfestigen. Desorientierung und Kontrolle durch Führungspersönlichkeiten können die Innovationskraft und das Durchhaltevermögen der Belegschaft in der Krise signifikant reduzieren. Gerade jetzt sind Zusammenhalt und der Glaube an die eigenen Fähigkeiten essentiell für jedes Team.
Zu der Problematik der dynamischen Anpassung: Wir wissen noch nicht, wie die Krise sich weiterentwickelt und welche Services und Produkte wichtiger oder unwichtiger werden. Daher müssen Unternehmen viele Eisen im Feuer parat halten, um dann schnell darauf reagieren zu können. Auch wenn sie sich nur auf ein paar Eisen konzentrieren, muss die Unternehmung schneller als sonst reagieren können. Nur so kann die Organisation mit dem Wettbewerb mithalten und eine Verdrängung vom Markt vermeiden. Das früher schon oft genutzte Buzzword “Volatilität” wird jetzt vermutlich nochmal sehr viel stärker und tatsächlich erlebt werden. Kleine Eskalationen oder Impulse in der Weltwirtschaft können nun extremer spürbare Wellen schlagen. Sich dafür gut aufzustellen wird für viele kleine Unternehmen extrem herausfordernd, oder sogar überfordernd.
“Ich glaube, es wird immer noch unterschätzt, wie wichtig es ist, neben den ganzen operativen Themen und dem Krisenmanagement, achtsam zu kommunizieren, innezuhalten und bewusst zu reflektieren. Für Führungskräfte und MitarbeiterInnen ist es gerade jetzt die Aufgabe, aus dem Hamsterrad der Krisenbewältigung ab und an bewusst auszusteigen.“
Themenfeld: “Mitarbeiter, Führung und HR”
Gemäß Deinem Verständnis und Deiner Vision von New Work sollten wir auch in der Arbeit “Mensch sein” können, mit unseren Sorgen, Ängsten und Hoffnungen – selbst wenn diese nicht alle erfüllt werden können. Was macht aus dieser Haltung heraus die aktuelle Situation mit den Menschen?
Ich glaube es bringt viele Menschen näher zueinander. Krisen können stärkend und verbindend sein. Gleichzeitig erlebe ich auch Menschen, die unter dieser Krise auf vielen Ebenen negative Erfahrungen machen: Vereinsamung, Jobverlust, Identitätsverlust.
Welche Effekte erwartest Du für die Führungskräfte und Mitarbeiter in (kleineren) Unternehmen? Und vor allem was braucht es, um zielgerichtet damit umzugehen?
Führungskräfte werden gerade jetzt besonders herausgefordert und sind vor allem in der eins-zu-eins Kommunikation gefragt. Hier gilt es wirklich und authentisch zuzuhören, achtsam für die “leisen” Töne zu sein und gleichzeitig, wie oben schon beschrieben, Orientierung und Ausrichtung zu bieten. Ein wichtiger Hebel, den wir bei Leadership³ im Kontext neuer Führung immer wieder hervorheben, ist der Selbstkontakt, d.h. bekomme ich als Führungskraft mit, was die Situation mit mir selbst gerade macht, wie es mir geht? Hier bewusst zu reflektieren ist das A und O, um gut mit anderen Menschen in Beziehung zu gehen. Ich glaube, es wird immer noch unterschätzt, wie wichtig es ist, neben den ganzen operativen Themen und dem Krisenmanagement, achtsam zu kommunizieren, innezuhalten und bewusst zu reflektieren. Für Führungskräfte und MitarbeiterInnen ist es gerade jetzt die Aufgabe, aus dem Hamsterrad der Krisenbewältigung ab und an bewusst auszusteigen.
Wie bewertest Du die Rolle von HR (Human Resources / Human Relations / Personalwesen)? Was kann – oder sogar: muss – HR tun, um eventuell gegenzusteuern und die Organisation weiter zu stabilisieren?
Ich erlebe in einigen Organisationen, dass HR als dynamisches Vorbild vorangeht und sehr schnell sehr wirksame Maßnahmen eingeleitet hat, um die MitarbeiterInnen auf Prozess-Ebene aber auch auf kultureller Ebene gut abzuholen. HR muss an der Stelle sehr feinfühlig sein und genau mitbekommen, was die MitarbeiterInnen jetzt wirklich bewegt. Intensiver persönlicher Kontakt ist auch hier von besonderer Bedeutung.
“Im Gegensatz zu großen Unternehmen haben kleinere Organisationen oft nicht die Ressourcen, um umfassende Maßnahmen zu ergreifen. Deswegen heißt es an dieser Stelle Fokus. Und zwar Fokus auf speziell zwei Dinge: Nämlich erstens, intensiv den Markt beobachten und Änderungen antizipieren und zweitens, echte tiefgreifende Kollaboration mit anderen Unternehmen realisieren.“
Themenfeld: “Digitalisierung, Kompetenzen und Mindset”
Welche Sofortmaßnahmen können (kleinere) Unternehmen direkt ergreifen, um weiterhin handlungsfähig zu bleiben? Gibt es eventuell ganz konkrete Handlungsanweisungen speziell aus Deiner Perspektive als agiler Coach?
Im Gegensatz zu großen Unternehmen haben kleinere Unternehmen oft nicht die Ressourcen, um umfassende Maßnahmen zu ergreifen. Deswegen heißt es an dieser Stelle Fokus. Und zwar Fokus auf speziell zwei Dinge:
- Intensiv den Markt beobachten, schnell reagieren und eine fortschreitende Digitalisierung in unterschiedlichen Bereichen antizipieren. Also so etwas wie “Markt-Scouts” etablieren, wenn es das nicht ohnehin schon gibt, die eng in das Unternehmen eingebunden sind.
- Echte tiefgreifende Kollaboration mit anderen Unternehmen. Es geht hier um mehr als reine kurzfristige Kooperation oder Synergien schaffen. Es geht darum, eine gemeinsame Vision in die Welt zu bringen, basierend auf gemeinsamen Werten und gegenseitigem Vertrauen: Kooperation ist der erste Schritt dorthin (mehr dazu unter Kooperation vs. Kollaboration). Kleine Unternehmen sind mehr denn je darauf angewiesen jetzt in Netzwerkstrukturen zu arbeiten, starke Geschäftsbeziehungen weiter zu vertiefen und gemeinsam am Markt aufzutreten. Während der Krise haben wir direkt erste Beispiele erleben können, beim Einzelhandel, in der Gastronomie (www.deutschlandbestellt.de) aber auch zwischen Dienstleistern (z.B. www.kaufnebenan.de)
Welches Mindset bzw. Einstellung und welche Kompetenzen brauchen (kleinere) Unternehmen, um gestärkt aus dieser Krisensituation hervorzugehen? Wie zeigt sich das konkret?
Durchhaltevermögen, Anpassungsfähigkeit und eine noch größere Bereitschaft gerade jetzt neue Wege auszuprobieren. Keine leichte Aufgabe, wenn Umsätze stagnieren…
Welche Rolle kann Digitalisierung spielen, um Antworten in der Krise zu finden? Können digitale HR-Lösungen einen Mehrwert bringen?
Digitale HR-Lösungen können sicherlich einen Teil der Arbeit abnehmen und an der ein oder anderen Stelle Effizienzen schaffen, wenn das Roll-Out schnell und unkompliziert abläuft. Die Digitalisierung, die ja auch schon vor der Krise bei einigen stattfand, kann weitere Impulse und Inspirationen bieten, sich kritisch mit bestehenden Prozessen und Abläufen zu befassen. Sie kann aufzeigen, wie Prozesse schlanker oder völlig anders eingebettet werden können. Dafür braucht es sicherlich erst einmal Raum und Zeit, damit sich die richtigen Stakeholder im Unternehmen damit befassen können.
“Ich sehe die Chance, dass Teams durch die Krise enger zusammen wachsen, neue Lösungen aus der Not heraus schaffen und bereitwilliger auch Projekte wieder verwerfen, die nicht gefruchtet haben. Es gibt gerade jetzt die Gelegenheit sinnvoll die eigenen Aktivitäten zu reflektieren, auszusortieren und neu zu priorisieren.”
Themenfeld: “Chancen, Gewinner und Ausblick”
Lass uns eine Plattitüde bemühen: Gemeinhin heißt es, dass jede Krise auch neue Chancen mit sich bringt. Welche Chancen siehst Du und warum?
Wie ich schon ausgeführt habe, besteht aus meiner Sicht die Chance, dass Teams durch die Krise enger zusammen wachsen, neue Lösungen aus der Not heraus schaffen und bereitwilliger auch Projekte wieder verwerfen, die nicht gefruchtet haben. Es gibt gerade jetzt die Gelegenheit sinnvoll die eigenen Aktivitäten zu reflektieren, auszusortieren und neu zu priorisieren.
In einigen Unternehmen erlebe ich auch, dass die Krise neue Formen der Zusammenarbeit wie kollektive Führung, Selbstorganisation und mehr Autonomie fördert. Es gibt auch die Chance, wirklich mutig zu sein, statt auf Bewährtes zu setzen, denn wir wissen nicht, wie es “danach” weitergehen wird.
Auch wenn Du keine Hellseherin bist interessiert uns Deine Einschätzung: Welche Unternehmen bzw. Branchen werden aus Deiner Sicht am meisten profitieren, wenn die Krise wieder vorbei ist und so etwas wie “Normalität” einkehrt? Warum gerade die von Dir genannten?
Ich bin tatsächlich keine Hellseherin… Und ich bin tatsächlich ehrlich, mir gefällt meine Antwort nicht so sehr: Profitieren werden vor allem digitale Großkonzerne, die ihren Einflussbereich in den analogen Bereich ausweiten können, und außerdem Unternehmen im Datenanalyse- und Überwachungsbereich. Einfach schon deshalb, weil Kontrolle und Zentralisierung das gelernte gesellschaftliche Muster im Umgang mit Krisen sind.
Mein Wunsch wäre, dass auch Unternehmen profitieren werden, die auf dezentrale Strukturen, open source und lokale Lösungen setzen. Hier gibt es gerade für kleine Unternehmen die Chance sich zu positionieren.
Ansonsten werden hoffentlich auch aus der Startup-Szene Branchen wie Fin-Tech, Biotech, innovative Food Startups, Edu-Tech und vor allem auch Unternehmen, die innovative Live-Formate anbieten, profitieren.
Natalie Sennes Expertise und fachlich-inhaltlicher Hintergrund:
- Leadership & Führung
- Organisationsentwicklung
- Gestaltung von Veränderungsprozessen / Wandel / Change Management
- Lean Management & Agilität
- Psychologie (Arbeits-, Wirtschafts-, Organisationspsychologie)
- New Work / Holocracy
Über unseren heutige HR Expertin:
Mein Name ist Natalie Sennes. Schon im Studium an der Zeppelin Universität hat mich die Frage bewegt, wie sich Organisationen und Teams gesund entwickeln, und was es braucht, um einen Wandel in der Arbeitswelt nachhaltig anzustoßen. Heute arbeite ich als agiler Coach und Prozessbegleiterin an der Zukunft der Arbeitswelt. Mit Leadership³ entwickle ich neue Konzepte und Formate für kollektive Führung, Selbstorganisation und New Work. Dabei begleite ich Teams auf dem eigenen Weg zu menschlicher und effektiver Zusammenarbeit.
Als Geschäftsführerin von MovingMountains begleite ich beim Wandercoaching und bei MountainRetreats Individuen und Teams auf ihrem Weg, die eigenen Potenziale ins Leben zu bringen – all das jenseits des Seminarraums, sondern in Bewegung und in der Natur.
Als Innovationsarchitektin berate ich Kunden (Automotive, Insurance, Energy, Tech) der German Entrepreneurship GmbH bei Innovations-, Intrapreneurship und Corporate Acceleration Projekten. Zuvor habe ich den Startup Accelerator des LMU Entrepreneurship Centers geleitet und unternehmerische Programme für junge Leute entwickelt.
Ich habe in den letzten 10 Jahren eigene Gründungen vorangetrieben, in der Führungskräfteentwicklung, Inhouse Consulting, Startup Coachings sowie im agilen Projektmanagement gearbeitet. Ich liebe die Berge und bin daher regelmäßig im Mountain Office oder beim Wandercoaching unterwegs.