Wege und Strategien aus der Krise - Experten-Interview mit Andrea Prestel-Galler | ANDARE Consulting & Coaching
[München – 23.03.2020] Wir fragen – HR-Experten mit diversen fachlichen Hintergründen antworten. Heute bei uns im Interview: Andrea Prestel-Galler | ANDARE Consulting & Coaching.
Diese reflektierten Perspektiven und Einschätzungen sollen ein Stück weit dabei helfen, die aktuell für viele unübersichtliche Situation im Zuge der Corona-Krise und die damit verbundene Informationsflut etwas besser zu sortieren: Was sind direkte Auswirkungen, substantielle Herausforderungen, aber auch welche Strategien braucht es und wo ergeben sich Chancen. Es gilt, für uns alle besser zu verstehen, was nun wirklich wichtig ist – speziell für Startups und KMU, aber auch für andere Organisationen.
Was tun in der Corona-Krise? Wir fragen HR Experten zu den Herausforderungen, Strategien und Chancen
(2) … heute mit: Andrea Prestel-Galler | ANDARE Consulting & Coaching
Anmerkung: Mit der im Folgenden verwendeten Bezeichnung “kleinere Unternehmen” sind primär Startups, KMU und auch Non-Profit-Organisationen in einer Beschäftigtengrößenklasse von bis zu 50 Mitarbeitern gemeint. Gleichwohl treffen die von den Experten genannten Aspekte vielfach auch auf größere Organisationen mit mehreren Hundert oder Tausend Beschäftigten zu.
“Ist vielleicht das eigene Verhalten im Kontext der Krise dafür verantwortlich, dass das Unternehmen nicht überlebt?”
Themenfeld: “Risiken, Herausforderungen und Auswirkungen der Krise”
staffboard: Andrea, welche Herausforderungen siehst Du durch die aktuelle Corona-Krise auf (kleinere) Unternehmen zukommen, speziell im Kontext Deiner Expertise?
Andrea Prestel-Galler: Kleine Unternehmen leben von Flexibilität und einer guten Portion Risikobereitschaft. Die Weiterentwicklung der eigenen Organisation passiert oft nebenbei, wenn man miteinander im Gespräch bleibt. In der aktuellen Corona-Krise – und das merke ich nicht zuletzt an mir und meiner Unternehmensführung – sinkt die Risikobereitschaft. Ich frage mich: “Worin investiere ich jetzt gezielt, für welche strategischen Themen ist Geld übrig, ohne dass dies dann am Ende des Monats bei der Lohnfortzahlung fehlt”. Dieses Verhalten widerspricht der “Gründernatur”, denn Risikoaffinität ist für diese Riege an Menschen kein Leichtsinn, sondern ein Asset.
Warum ist das aus Deiner Sicht “mission critical” für viele (kleinere) Unternehmen und damit potentiell gefährlich für deren Fortbestehen?
In Krisenzeiten tendieren auch sonst risikofreudige Unternehmer dazu, die Familie – egal ob die Zuhause oder die in der Firma – vor dem steigenden Wasserpegel schützen zu wollen. Und das wirkt sich natürlich auf das Team aus. Die Gespräche werden von wenn-dann-Szenarien dominiert, Kreativität wird zugunsten des Budgets eingeschränkt und das kollektive Gefühl des sich-aufeinander-verlassen-Könnens wird durch aufkeimende Eigeninteressen (wer wird im Zweifelsfalle vor mir gekündigt?) gehemmt. Leider sind aber gerade Eigenschaften wie Kreativität und Handlungsstärke das eigentliche Kapital einer kleinen Firma. Und eine Abwärtsspirale beginnt…
Themenfeld: “Mitarbeiter, Führung und HR”
Aus Deiner bisherigen Erfahrung bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen: Was macht diese Situation mit den Menschen? Und welche Effekte erwartest Du für die Führungskräfte und Mitarbeiter in (kleineren) Unternehmen? Was braucht es, um zielgerichtet damit umzugehen?
Ich frage mich: Inwiefern ist diese Abwärtsspirale als Reaktion auf die Corona-Krise womöglich sogar hausgemacht? Ist vielleicht das eigene Verhalten im Kontext der Krise dafür verantwortlich, dass das Unternehmen nicht überlebt? Ich meine: es ist zutiefst menschlich, sein Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Aber bei Entrepreneuren ist dieser Drang weniger stark ausgeprägt als bei Persönlichkeiten, die sich eher in einer Festanstellung sicher fühlen. Für Unternehmer stehen Werte wie Freiheit und Individualismus im Vordergrund. Gerade deshalb sollten wir darauf achten, diese Grundwerte in Krisenzeiten nicht zu verraten, sondern uns bewusst auf sie verlassen. Denn in ihnen steckt eine enorme Stärke.
Wie bewertest Du die Rolle von HR (Human Relations/Personalwesen)? Was kann oder sogar muss HR tun, um eventuell gegenzusteuern und die Organisation weiter zu stabilisieren?
Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass in Zeiten von Beschränkungen weitere Einschränkungen nicht helfen, sondern zusätzlich verunsichern. Was es bräuchte sind Vertrauen, Erlaubnisse, Lockerungen von Grenzen und einen jetzt-erst-Recht Modus.
HR hat in vielen Unternehmen die Kompetenz, die Organisationsentwicklung z.B. durch Führungskräftecoaching-Angebote weiter zu entwickeln. Viele Führungskräfte schicken ihr Team oft deshalb nicht ins Home Office, weil sie Angst vor dem Verlust ihrer Steuerungsmacht haben. Dem kann man hervorragend durch Coaching entgegenwirken. Leider fehlt in Corona-Zeiten das Budget hierfür. Also beißt sich die Katze auch da selbst in den Schwanz. Aber es gibt Tools wie z.B. die kollegiale Supervision, die erstmal nur interne Ressourcen kosten und trotzdem wirksam sind.
“Veränderungsprozesse erfordern natürlich eine Phase, in der man sich seinem Schicksal stellen muss. In dieser Phase sind wir auf Talfahrt und nicht handlungsfähig. Aber umso schneller wir dieses Tal hinter uns bringen – indem wir es z.B. nicht verdrängen sondern uns ihm bewusst stellen – umso schneller kommen wir wieder ins Machen. Und das ist wichtig, um in einem halbleeren ein halbvolles Glas sehen zu können.”
Themenfeld: “Digitalisierung, Kompetenzen und Mindset”
Welche Sofortmaßnahmen können (kleinere) Unternehmen direkt ergreifen, um weiterhin handlungsfähig zu bleiben? Hast Du aus Deiner Perspektive eventuell ganz konkrete Handlungsanweisungen?
Wenn ein Mensch Angst hat, z.B. vor dem Verlust seiner Existenzgrundlage, oder einfach nur vor der Führungsrolle, greift ganz automatisch einer von drei Urinstinkten: (1) Angriff, (2) Totstellen oder (3) Davonlaufen. Und keiner dieser drei Modi ist in Krisenzeiten hilfreich. Deshalb sollten wir – auch als Organisation – rationale Handlungsfähigkeit zurück erlangen. Helfen kann hierbei z.B. das Team zusammen zu trommeln und ein gemeinsames Ziel als Navigation durch die Krise zu entwickeln und mit vereinten Kräften an dessen Realisierung zu arbeiten. Das schweißt zusammen und vereint in der Blickrichtung. Eine gute und vor allem schnell umzusetzende Methode hierfür sind OKRs (Objectives and Key Results).
Welches Mindset und welche Kompetenzen brauchen (kleinere) Unternehmen, um gestärkt aus dieser Krisensituation hervorzugehen? Wie zeigt sich das konkret?
Nicht lange reden, sondern machen! Veränderungsprozesse erfordern natürlich eine Phase, in der man sich seinem Schicksal stellen muss. In dieser Phase sind wir auf Talfahrt und nicht handlungsfähig. Aber umso schneller wir dieses Tal hinter uns bringen – indem wir es z.B. nicht verdrängen sondern uns ihm bewusst stellen – umso schneller kommen wir wieder ins Machen. Und das ist wichtig, um in einem halbleeren ein halbvolles Glas sehen zu können.
Und welche Rolle kann Digitalisierung spielen, um Antworten in der Krise zu finden? Können digitale HR-Lösungen einen Mehrwert bringen?
Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig Unternehmen ihr Ressourcenmanagement im Griff haben. Zum einen wird oft nicht transparent, wer zu wieviel Prozent seiner Zeit auf welche Themen geplant ist. Zum anderen ist übergreifend nicht bekannt, wer über welche Kompetenzen verfügt. Damit verspielen viele Firmen Kapital. Und gerade in Krisenzeiten sollte man als Organisation einen ganz genauen Überblick über seine Ressourcen und Fähigkeiten haben, sonst kann man sie nicht gezielt investieren.
Was genau meinst Du damit: Wie kann Digitalisierung z.B. zum besseren Ressourcenmanagement beitragen? Hast Du konkrete Empfehlungen zu digitalen Tools für Ressourcenmanagement – und wenn ja: welche?
Ich bin der Meinung, dass man die Ressourcen- und Kompetenzplanung nicht über den Daumen peilen sollte. Auch Excel Listen sind Insellösungen. Viel mehrwertiger sind Systeme, die Ressourcen und Kompetenzen integriert managen. Von der Personalakte inkl. Kompetenzprofil des einzelnen Mitarbeiters über dessen Zeiterfassung bis hin zur Ressourcenplanung in Betrieb und Projekt.
“Vielleicht hilft es uns, die organisatorischen Änderungen, in die wir jetzt gezwungen werden, beizubehalten? Ich bin sicher, dass Digitalisierung bisher ein Buzzword war, das erst jetzt in der Breite gelebt wird.”
Themenfeld: “Chancen, Gewinner und Ausblick”
Lass uns eine Plattitüde bemühen: Gemeinhin heißt es, dass jede Krise auch neue Chancen mit sich bringt. Wie siehst Du das? Welche Chancen siehst Du und warum?
Vielleicht hilft es uns, die organisatorischen Änderungen, in die wir jetzt gezwungen werden, beizubehalten? Ich bin sicher, dass Digitalisierung bisher ein Buzzword war, das erst jetzt in der Breite gelebt wird. Das Datenvolumen für Videokonferenzen hat sich in der Corona-Krise wohl verdoppelt. Ich hoffe, dass es auch nach der Corona-Krise hoch bleibt. Wir sollten die aktuelle Situation nutzen um uns zu überlegen, wie wir noch viel mehr zwischenmenschliche Interaktion ohne Effizienzverluste in den virtuellen Raum verlagern können.
Auch wenn Du kein Hellseher bist interessiert uns Deine Einschätzung: Welche Unternehmen bzw. Branchen werden aus Deiner Sicht am meisten profitieren, wenn die Krise wieder vorbei ist und so etwas wie “Normalität” einkehrt?
Alle Unternehmen, die in irgendeiner Art mit Virtualisierung zu tun haben. Wie cool wäre es denn, denn wir zukünftig an Teamentwicklungsworkshops mit VR Brillen teilnehmen könnten. Was würden wir an Lebenszeit gewinnen, nicht mehr ewige Wegzeiten zu haben. Und das Klima erst!
Über unsere heutige HR Expertin:
Ich bin Andrea Prestel-Galler, 36 Jahre, Mama von wundervollen Jungs und Inhaberin der Boutique Beratung ANDARE Consulting & Coaching. Wir sind ein 8-köpfiges Team aus Organisationsentwicklern, Change Managern, Kommunikationsexperten und Coaches. Unter dem Motto “Connecting People and Tech” begleiten wir Menschen in Veränderungsprozessen rund um IT-Systeme, Technologien und Digitale Transformation.
Andrea Prestel-Gallers Expertise und fachlich-inhaltlicher Hintergrund:
- Veränderungsprozesse/Wandel/Change Management
- Unternehmenskultur & Werte
- Organisationsentwicklung