Wege und Strategien aus der Krise – Experten-Interview mit Martina Reiss | Martina Reiss Consulting & Coaching

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[München – 02.04.2020] Wir fragen – HR-Experten mit diversen fachlichen Hintergründen antworten. Diese reflektierten Perspektiven und Einschätzungen sollen ein Stück weit dabei helfen, die aktuell für viele unübersichtliche Situation im Zuge der Corona-Krise und die damit verbundene Informationsflut etwas besser zu sortieren: Was sind direkte Auswirkungen, substantielle Herausforderungen, aber auch welche Strategien braucht es und wo ergeben sich Chancen. Es gilt, für uns alle besser zu verstehen, was nun wirklich wichtig ist – speziell für Startups und KMU, aber auch für andere Organisationen. 

“Ich empfehle sehr stark, sich auch in diesen Zeiten von Werten wie Fairness, Kooperation und Solidarität leiten zu lassen. Denn daran werden sich MitarbeiterInnen, KundInnen, PartnerInnen, StakeholderInnen etc. nach der Krise erinnern und ihr Handeln danach ausrichten.”

Was tun in der Corona-Krise? Wir fragen HR Experten zu den Herausforderungen, Strategien und Chancen 
(8) … heute mit: Martina Reiß von Martina Reiß Consulting & Coaching  

Anmerkung: Mit der im Folgenden verwendeten Bezeichnung “kleinere Unternehmen” sind primär Startups, KMU und auch Non-Profit-Organisationen in einer Beschäftigtengrößenklasse von bis zu 50 Mitarbeitern gemeint. Gleichwohl treffen die von den Experten genannten Aspekte vielfach auch auf größere Organisationen mit mehreren Hundert oder Tausend Beschäftigten zu. 

Themenfeld: "Risiken, Herausforderungen und Auswirkungen der Krise"

staffboard: Martina, welche Herausforderungen siehst Du durch die aktuelle Corona-Krise auf (kleinere) Unternehmen zukommen, speziell im Kontext Deiner umfassenden HR Expertise?

Martina Reiß: Es gibt nach wie vor Unternehmen, in denen Themen wie Organisationsentwicklung und Führung nicht ambitioniert genug angegangen worden sind. Fehlende gemeinsame Leitbilder und Visionen sowie mangelnde Klarheit über Ziele, Erfolg sowie Rollen und Verantwortungen sind die Folge. Das lässt sich nun aus der Distanz des Home Office noch schwieriger beheben und sorgt neben den offensichtlichen wirtschaftlichen Herausforderungen für zusätzlichen Stress. 

Warum ist das aus Deiner Sicht “mission critical” für viele (kleinere) Unternehmen und damit potentiell gefährlich für deren Fortbestehen?

Jetzt zählen Fokus und präzises Handeln zur Überlebensstrategie. Es gibt keinen Spielraum für vergeudete Ressourcen durch zum Beispiel unnötige Absprachen oder unklare Zielstellung. Fokus und das häufig beschworene Ziehen an einem Strang braucht die oben genannten gemeinsamen Leitbilder und Visionen sowie die Klarheit über Ziele, Erfolg, Rollen und Verantwortung. 

“Wie in eigentlich allen Unternehmenskrisen spielt HR eine zentrale Rolle bei der Bewältigung. Dabei sind die KollegInnen auf unterschiedlichen Ebenen gefordert: rechtlich, organisatorisch und kulturell. Das ist ein enormes Paket, vor allem, wenn man bedenkt, dass die MitarbeiterInnen aus der HR Abteilung eben auch selbst betroffen sind.

Themenfeld: "Mitarbeiter, Führung und HR"

Du beschäftigst Dich seit mehr als 10 Jahren mit dem Coaching und der Beratung von Führungskräften und GeschäftsführerInnen. Was macht diese Situation mit den Menschen? Welche Effekte erwartest Du für die Führungskräfte und Mitarbeiter in (kleineren) Unternehmen? Was braucht es, um zielgerichtet damit umzugehen?

Unsicherheit führt nicht selten zu Angst. Angst wiederum aktiviert den allseits bekannten Flight-Fight-Freeze Mechanismus. Keine dieser Reaktionen ist hilfreich. Denn weder nützt es Organisationen, wenn die Mitarbeitenden in einen individuellen „Überlebenskampf“ treten, noch, dass sie sich komplett aus dem Handeln zurückziehen oder in eine Schockstarre verfallen. Ziel muss es demnach sein, Führungskräfte und Mitarbeitende so viel wie möglich Unsicherheit zu nehmen. Also vor allem transparent darüber zu sein, was konkret zum Erhalt des Unternehmens getan wird – beziehungsweise, dass das Unternehmen durch die aktuelle Situation nicht gefährdet ist -, welche Maßnahmen zur Kosteneinsparung eingeleitet wurden und vor allem nicht vergessen, dem Team auch menschlich zur Seite zu stehen.

Und wie bewertest Du die Rolle von HR (Human Resources / Human Relations / Personalwesen)? Was kann – oder sogar: muss – HR tun, um eventuell gegenzusteuern und die Organisation weiter zu stabilisieren? 

Wie in eigentlich allen Unternehmenskrisen spielt HR eine zentrale Rolle bei der Bewältigung. Dabei sind die KollegInnen auf unterschiedlichen Ebenen gefordert. Beim Thema Kurzarbeit gilt es den rechtlichen Rahmen gut zu kennen und anzuwenden (rechtliche Ebene). Außerdem müssen im Zusammenhang mit der remote Arbeit viele organisatorische Themen wie z.B. neue Meetingstrukturen, neue Kommunikationsformen und Führungsfragen neu entwickelt und definiert werden (organisatorische Ebene). Und HR ist natürlich auch Ansprechpartner für die ganz persönlichen Fragen, Ängste und Sorgen der MitarbeiterInnen und nicht selten damit beauftragt, mit verschiedenen Aktionen die Stimmung im Team hoch zu halten (kulturelle Ebene). Das ist ein enormes Paket, vor allem, wenn man bedenkt, dass die MitarbeiterInnen aus der HR Abteilung eben auch selbst betroffen sind. Ich empfehle daher dringend, dafür zu sorgen, dass HR Abteilungen in solchen Prozessen Unterstützung z.B. durch Coaching bekommen.

Gute, digitalisierte HR Prozesse helfen jetzt natürlich enorm dabei, auch aus der Distanz gute HR-Arbeit zu machen. Dazu gehören etwa automatisierte Recruiting- und Onboardingprozesse, aber auch digitalisierte Guidelines und Templates.

Themenfeld: "Digitalisierung, Kompetenzen und Mindset"

Welche Sofortmaßnahmen können (kleinere) Unternehmen direkt ergreifen, um weiterhin handlungsfähig zu bleiben? Gibt es eventuell ganz konkrete Handlungsanweisungen speziell aus Deiner Perspektive? 

Für mich gibt es hier drei wesentliche Aktionsfelder, in denen man aktiv sein muss: 

  1. Fokus! Welche Maßnahmen helfen, die Krise zu überstehen – etwa Kurzarbeit, Zuschüsse, Kredite etc.? Mit welchen Maßnahmen können eventuelle Chancen der Krise zum unternehmerischen Vorteil genutzt werden – zum Beispiel digitale Angebote, Kooperationen, neue Produkte und Angebote etc.?
  2. Transparenz! Zum einen sind in der aktuellen Situation auch unangenehme Maßnahmen wie Kurzarbeit oder Entlassungen notwendig. Um die Belegschaft nicht noch weiter zu verunsichern und zu demotivieren, ist es wichtig mit diesen Maßnahmen transparent umzugehen. Auf der anderen Seite sollte nicht vergessen werden auch positive Ergebnisse – beispielsweise Teamspirit, Erfolge trotz Krise etc. – immer wieder aufzuzeigen.
  3. Kommunikation! Aktuell gilt einfach: Mehr ist mehr! Die verschriftlichten Minutes nach Meetings, ein Follow Up per E-Mail nach einem Telefonat oder ein Telefonat zum Besprechen von Details nach einer E-Mail. All das ist notwendig, um unnötige Reibungsverluste und Missverständnisse zu vermeiden.


Welches Mindset bzw. Einstellung und welche Kompetenzen brauchen (kleinere) Unternehmen, um gestärkt aus dieser Krisensituation hervorzugehen? Wie zeigt sich das konkret?

Frei nach Helmut Schmidt würde ich sagen: „In der Krise zeigt sich der wahre Charakter“. Daran werden sich MitarbeiterInnen, KundInnen, PartnerInnen, StakeholderInnen etc. nach der Krise erinnern und ihr Handeln danach ausrichten. Ich empfehle also sehr stark, sich auch in diesen Zeiten von Werten wie Fairness, Kooperation und Solidarität leiten zu lassen.

Wie beurteilst Du die Rolle der Digitalisierung, um Antworten in der Krise zu finden? Und können digitale HR-Lösungen einen Mehrwert bringen? 

Gute, digitalisierte HR Prozesse helfen jetzt natürlich enorm dabei, auch aus der Distanz gute HR-Arbeit zu machen.
Ich denke da an automatisierte Recruitingprozesse, die dafür sorgen, dass die Candidate Experience sowie ein professioneller Auswahlprozess auch weiterhin sichergestellt sind.
Vielen, die in diesen Tagen eine neue berufliche Herausforderung antreten, ermöglichen digitale Onboarding Prozesse und gute Learning Management Systeme auch außerhalb des Büros einen guten Start.
Auch in Sachen Führung und Mitarbeiterentwicklung können digitale Lösungen einen echten Mehrwert bieten. Digitalisierte Guidelines und Templates helfen Führungskräften unabhängig vom Arbeitsort.

“Viele Unternehmen haben sich nicht ambitioniert genug mit  Organisationsentwicklung und Führung befasst. Fehlende gemeinsame Leitbilder und Visionen sowie mangelnde Klarheit über Ziele, Erfolg sowie Rollen und Verantwortungen sind die Folge. Das lässt sich nun aus der Distanz des Home Office noch schwieriger beheben und sorgt – neben den wirtschaftlichen Herausforderungen – für zusätzlichen Stress.

Themenfeld: "Chancen, Gewinner und Ausblick"

Lass uns eine Plattitüde bemühen: Gemeinhin heißt es, dass jede Krise auch neue Chancen mit sich bringt. Wie siehst Du das? Welche Chancen siehst Du und warum?

Ich denke, unsere Chance besteht darin, diese aktuelle Krise als das zu begreifen, was sie ist. Eine echte Krise, die uns wirtschaftlich und gesellschaftlich vor ganz neue Herausforderungen stellt. Wenn wir es schaffen, uns darauf zu fokussieren für diese Herausforderungen Strategien und Lösungen zu entwickeln, anstatt uns mit Nebenprojekten, für die man „Dank Kontaktsperre“ nun endlich Zeit hat, zu beschäftigen und wenn wir dabei auch noch solidarisch agieren, dann sehe eine echte Chance, wie wir als Gesellschaft und auch als Individuen in ungeahntem Maße wachsen können. Und das ist eine echte Chance.

Auch wenn Du keine Hellseherin bist interessiert uns Deine Einschätzung: Welche Unternehmen bzw. Branchen werden aus Deiner Sicht am meisten profitieren, wenn die Krise wieder vorbei ist und so etwas wie “Normalität” einkehrt? Warum gerade die von Dir genannten?

Hierzu fallen mir zwei Bereiche ein, die ich als Gewinner sehe: 

Digital Health: Wie wichtig die digitale Versorgung von PatientInnen ist, zeigt sich aktuell besonders stark. Videosprechstunden oder Online Konsultationen tragen dazu bei, unnötige Kontakte zu verhindern und schützen somit vor allem ÄrztInnen und PflegerInnen. Mittel- und langfristig wird der Digitalisierungsschub aus der aktuellen Krise dazu führen, dass sogenannte Fernbehandlungen und digitale Prozesse im Gesundheitswesen für uns immer selbstverständlicher werden. 

Coaching: Im Sinne eines Change Prozesses befinden wir uns aktuell in einer Phase der maximalen Instabilität. Coaching ist die Kompetenz, die solche Phasen managen und in neue erfolgreiche Zustände führen kann. Davon profitieren sowohl einzelne, aber auch ganze Organisationen, in dem sie den beständigen Wandel im besten Sinne für sich gestalten können.

Über unsere heutige HR Expertin: 

Ich bin Beraterin und Business Coach mit dem Fokus auf HR-Strategie und Leadership. Ich coache HR-Verantwortliche zu Themen wie Positionierung als Business PartnerIn und in der Zusammenarbeit mit Leadership und Geschäftsführung. Darüber hinaus berate und begleite ich Unternehmen im Bereich HR-Strategie und bei der Implementierung von Organisationsentwicklungsmaßnahmen, wie z.B. Feedback, Zielsysteme oder Performance Management. Dabei schöpfe ich aus über 10 Jahren Erfahrung im Aufbau und der Entwicklung von Organisationen. 

Als Co-Gründerin und Co-Gastgeberin des HR Breakfast Clubs Berlin bringe ich regelmäßig HR-Verantwortliche aus den unterschiedlichsten Branchen zu praxisrelevanten Workshops und zum inspirierenden Networking zusammen.

Martina Reiß’ Expertise und fachlich-inhaltlicher Hintergrund: 

  • Leadership & Führung 
  • Organisationsentwicklung
  • Unternehmenskultur & Werte
  • Aufbau und Skalierung von HR-Prozessen und Organisationsstrukturen
  • HR Strategie/Unternehmensstrategie
  • Beratung von Unternehmen in (wirtschaftlichen) Krisensituationen 
  • Digitalisierung (von Unternehmensprozessen)

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